Wolfgang Wolter: Rede zur Eröffnung der Ausstellung
Hadwig Schindler: Kelp - Mein Namibia
Galerie Mönter, Meerbusch, am 18. Januar 2008
Heinrich Wölfflin berichtet gleich zu Anfang seiner Kunstgeschichtlichen Grundbegriffe aus den Lebenserinnerungen Ludwig Richters von einer ungewöhnlichen Künstlererfahrung:
Der Maler befand sich mit drei Kameraden zu Studienzwecken in italienischer Landschaft.
Zum Versuch, so darf man sich denken, verpflichteten sich alle vier, denselben Landschaftsausschnitt absolut getreu in einer Zeichnung festzuhalten.
Wie überrascht waren sie am Ende, als vier doch sehr verschiedene Bilder entstanden waren, und dies nicht aus Unvermögen.
Der Künstler als Medium, als Vermittler, kommt immer dazwischen. Seine Persönlichkeit ist immer mit im Bild.
Richter hat daraus den Schluss gezogen, dass es ein objektives Sehen nicht gäbe, sondern dass Form und Farbe je nach Temperament (das war sein Begriff) verschieden aufgefasst würden.
Und das alles gilt, sagen wir heute, selbstverständlich für die Künstlerin auch.
Das Thema der absoluten Abbildungstreue beherrschte auch gleich die Diskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, kaum dass die neue Technik der Fotografie verfügbar geworden war.
Die geistige Kraft des Künstlers, so der Begriff hier, werde durch die seelenlose Mechanik der Apparatur ausgeblendet.
Dieser Vorwurf spitzte sich in der Frage zu, ob die Fotografie überhaupt zu den Künsten zu zählen sei.
Wir haben jetzt Gelegenheit, eine Antwort auf die seinerzeit bewegende Frage erneut zu finden.
Wir sind heute in der Kunstgalerie Mönter zusammengekommen, um eine Ausstellung mit Fotoarbeiten von Hadwig Schindler auf den Weg zu bringen.
Wir lesen den geheimnisvollen Titel: KELP, mein Namibia
Eine der Arbeiten, die für viele stehen kann, zeigt uns ein merkwürdiges Gebilde:
Wie sehen etwas Flaches, Schlauchartiges, wie aus Gummi gemacht, lederartig auch, glänzend, feucht vielleicht, von verhaltener Farbe und Form – offenbar Teil eines dinglichen Etwas.
Aber wovon eigentlich?
Wer oder was ist Kelp?
Und dann: mein Namibia … Welche Assoziationen löst dieses Wort aus?
Wir bemerken trotz einer gewissen Faszination unsere Schwierigkeit, das Bild mit einem raschen Blick zu durchschauen, zu genießen, zu begreifen – und damit zu bewältigen, ja zu erledigen als das Andere, das Objekt außerhalb von uns, das man meint, sich aneignen zu können, z.B. wenn man es kauft …
Wir sind aber gewöhnt, dass Kunst dem Betrachter Widerstände entgegensetzt, dass der Betrachter sich am Werk abarbeiten muss. Und wir schätzen die Eroberungen, die uns Mühe gemacht haben, für die wir ein Stück von uns selbst hingegeben haben.
Ein paar Bemerkungen mögen deshalb behilflich sein bei der Annäherung an die hier gezeigten Arbeiten.
Und einige weitere Gedanken möchte ich hinzufügen dürfen, um die Rätselhaftigkeit, die durch die Verständnishilfen scheinbar aufgelöst sein könnte, wieder in ihr Recht zu setzen.
Zunächst also NAMIBIA:
Namibia – südafrikanisches Land am Atlantik mit ca. 1000 km Küstenlinie.
Hadwig Schindler hat im Jahr 2003 das Fotomaterial für diese Ausstellung bei einem längeren Aufenthalt in Namibia hergestellt und zu den Bildern gestaltet, die sie uns heute zeigt.
Wir sehen, was sie kunstwürdig fand, was im Rahmen ihres Aufmerksamkeitshorizontes aufgetaucht ist, und wir erkennen gleich, dass wir es mit einem besonderen, unerwarteten Namibia offenbar zu tun haben, das wir nicht sofort verstehen.
Was also besagt dann KELP?
Kelp, so habe ich lernen dürfen, ist die Bezeichnung für eine Pflanze am Ufer von Südwestafrikas Küste. Es handelt sich um eine Form von Tang. Diese Gewächse gedeihen im Wasser, viele werden von der Brandung an Land geschwemmt, lagern dort, zeichnen die Form des fließenden Wassers nach, sein Strudeln und Wirbeln. Sie verändern sich an der Luft, trocknen aus oder verwesen, sind vermischt mit Kies, Sand, Muscheln. Bizarre Formationen entstehen in diesem Zugrundegehen der lebendigen Gewächse. Fremdartige, nie gesehene Strukturen und Farben berühren unsere abendländische Phantasie. Raumskelette und Netzstrukturen werden sichtbar. Eine Montage aus Naturmaterial macht den Spaziergang am Strand zu eine Wanderung durch eine Kunstausstellung.
Man darf sich in der Vorstellung die chaotischen, schier endlosen Ablagerungen vergegenwärtigen, diesen gigantischen Abfallsaum in der Meeresbrandung des afrikanischen Landes, um zu begreifen, was eine Gestaltung diesem ungestalten, verwirrenden und verwirrten Material entreißt.
Denn, was wir sehen, sind offenbar nicht die seelenlosen apparativen Abbildungen, die für die wissenschaftliche Darstellung und Klärung einer Meeresflora geeignet oder gedacht wären.
Was wir sehen, sind „Bilder“ , „Kunstwerke“, die einen ganz anderen als den analytisch-wissenschaftlichen Zugang erfordern. Wir erkennen an ihnen, wie mit Hilfe des Mediums der Fotografie Kunst entstehen kann:
Hadwig Schindler schaut genau hin, um ihre Motive zu finden und zu formen. Bei der Bearbeitung bleibt sie beim Gegebenen, verzerrt nicht die Form, respektiert die natürlichen Farben. Selbst eine nachträgliche kompositorische Verbesserung entfällt fast ganz, denn vor Ort wird auch schon der Bildausschnitt festgelegt. Es ist immer ein Herausschneiden der Viereckfläche aus dem chaotischen Kontinuum der Pflanzenmassen.
Einzig die Größenverhältnisse sind geändert. Was wir als Bild sehen, zeigt die Realität auf das Doppelte bis Dreifache angehoben – zur bequemeren und freieren Rezeption.
Dem entspricht Schindlers Kunst: Sie will entdecken, zeigen, hervorheben, offenlegen, was der Normalblick übersieht. Sie lässt ohne Einmischung zu, was sich ihrem Auge darbietet, in einer geradezu religiösen Zurückhaltung gegenüber der Natur, die ihr „heilig“ ist. Sie will, Zitat, „nicht besser sein als der liebe Gott“.
Aber dieses Zeigen geschieht mit einer Eindringlichkeit der Gestaltung, ist vorbereitet durch eine meditative Wachheit, dass jede Ungenauigkeit gegenüber den Dingen überwunden ist.
Sie hat sich noch etwas bewahrt von der spielerischen Unvoreingenommenheit der frühen Kinderjahre, wo sie z. B. Auf einem Spuckefilm, der in eine Grashalmschlinge eingespannt ist, mit einem Tropfen der Wolfsmilchpflanze die bunten Spektralfarben der Sonne in vielen phantastischen Figuren aufglänzen lässt und dieses Phänomen wie ein Wunder betrachtet.
Was sie auf den Film belichtet, sitzt!
Dabei könnte man es bewenden lassen, um einen Zugang zur Kunst von Hadwig Schindler zu gewinnen.
Aber ich denke, dass in den Bildern noch eine andere, viel tiefere Ebene existiert.
Auf dieser Ebene befindet der Betrachter sich, wenn er ahnt, dass seine sachliche Neugier, d.h. sein Vergnügen an einer skurrilen botanisch-ornamentalen Welt, an dem Formenreichtum der Natur, umschlagen kann in das Erlebnis des ganz Fremden, für das es keine erlernten Begriffe, keine konventionellen Schemata und Erklärungen gibt, die Ordnung und Beruhigung schaffen könnten.
Die jeweils eigene Welt des Betrachters bricht hervor und erprobt sich emotional und assoziativ an dem Bildgegenüber. Er ist konfrontiert mit sich selbst, geradezu mit seinen Tiefenschichten und Stammhirnfunktionen.
Er fühlt sich z.B. erotisch animiert, spürt Ekel oder Lebensgier, empfindet Zärtlichkeit oder Gelassenheit, assoziiert Vorgänge, die mit der Kelp-Pflanze in keinem sachlichen Zusammenhang mehr stehen, sondern als subjektive Leistungen des Betrachters in einer Synthese hinzutreten.
Wenn ich eingangs sagte, dass schon der bloße Erwerb geeignet sein könnte, sich Bilder anzueignen, sie zu besitzen, so nehme ich deshalb diese Behauptung hier wieder zurück.
Denn wenn sich der Betrachter mit dem Bild nicht auseinandersetzt, wenn er sich nicht selbst einbringt, sich in ihm nicht spiegelt, ist das Bild für ihn eigentlich leer.
Das macht die Unabgeschlossenheit der Entdeckungen von Hadwig Schindler aus, dass der Betrachter kreativ – als Bildschöpfer selbst also – auf das Material reagiert.
Wir sehen an dieser Stelle, mit welchen Strömungen der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts sich Hadwig Schindlers Fotografien verbinden und zugleich als eigenständige Erfindungen abgrenzen.
Es würde heute zu weit führen, diesen Gedanken im Detail zu entfalten. Ich denke dabei an Gegenüberstellungen z.B. mit Phillip Otto Runges Blumen- und Blütenkonstruktionen, auch an Karl Blossfelds skulpturale und ornamentale Pflanzenfotografie oder an Ernst Haeckels phantastisches dreibändiges Werk „Kunstformen der Natur“.
Aber auch der Betrachter als Bilderfinder, wie ihn Max Ernst in seiner „Histoire naturelle“ sich denkt, wäre ein weiterführender Anknüpfungspunkt – vielleicht der treffendste, weil sich hier zeigen müsste, ob die Nähe zum Surrealismus die Naturfotografie von Hadwig Schindler charakterisiert. Denken Sie nur an Max Ernsts Urwaldbilder, z.B. an „La joie de vivre“.
Die schwankende Ambivalenz ihrer Kunst – zwischen (ich übertreibe zur Verdeutlichung) gottergebener künstlerischer Naturerforschung und selbstanalytischer Introspektion zu entscheiden, kann eine spannende Aufgabe des Betrachters sein. Ich wünsche Ihnen viel Freude bei diesem Unternehmen mit „Kelp – mein Namibia“ von Hadwig Schindler und gratuliere Hadwig Schindler zu ihrer gelungenen Ausstellung.
Wolfgang Wolter 2008