Gespinste
Ein Frühlingsspaziergang durch den Bruchwald. Weiden, Erlen, frisches, saftiges Grün, soweit das Auge reicht, bis ich plötzlich vor einer Gruppe weiß verpackter Bäume stehe; staune, mich frage, ob Christo vielleicht nach Verpackung des Reichstages hier am Werk gewesen ist; mich wundere, bewundere, näher trete und mir ganz genau ansehe die feine weiße Seide, in die die Bäume lückenlos eingesponnen sind; suche und finde die Verpackungskünstler: kleine, helle Raupen mit schwarzen Punkten sind es, die, wie ich zu Hause dann einem Buch über Kleinschmetterlinge entnehme, der Familie der Hyponomeutidae / Gespinstmotten angehören. Ich lese, was in meinem Bücherschrank an Literatur über Spinnen, Gespinste, Spanner, Seidenraupen, zu finden ist; befasse mich mit Labialpalpen, Ocellen und Spinndrüsen, als ich ein Kribbeln in der Gegend meines Steißbeines fühle; irgend etwas scheint da anzuschwellen. Ich werde unruhig, stehe auf, gehe ein paar Schritte, stelle fest: ich hinterlasse einen hellen, durchsichtigen Faden, sobald ich mich in Bewegung setze; auch befinde ich mich plötzlich nicht mehr in meiner Wohnung, sondern in einer mir ganz unbekannten Landschaft, ja möglicherweise sogar auf einem fremden Planeten. In einem von lockeren Gespinsten durchwobenen Urwald bewegen sich Menschen, die, wie ich, hellgefärbt, dunkelgepunktet, wohin sie auch gehen, Fäden absondern. Verwirrt frage ich den nächsten, der mir begegnet, nach einem Weg aus diesem Labyrinth. Verwundert ob meiner Unwissenheit, klärt er mich über Lebensgewohnheiten und Gesetze der Bewohner dieses Planeten auf: beispielsweise dürfe ich Blüten, Blätter und Früchte essen, wo, welche und wie viel ich wolle, es gäbe davon im Überfluss; meine einzige wesentliche Aufgabe hier bestehe darin, durch das Begehen ganz bestimmter Wege, im Zusammenspiel mit anderen, vorgegebene Muster zu weben; ich dürfe nicht einfach umherlaufen, wie es mir gerade in den Sinn komme; nur durch genaue Beobachtung des Geschehens um mich her könne ich den richtigen Weg finden. Sollte es aber doch einmal vorkommen, dass ich irre, würden bestens für die Einhaltung der Musterordnung geschulte Sicherheitskräfte einschreiten und mir den Weg weisen. Zuwiderhandeln sowie Abschneiden oder Abreißen des Fadens sei mit Todesstrafe belegt.
Bemüht, den Vorgaben gerecht zu werden, nichts falsch zu machen, ziehe ich nun Tag für Tag meine Seide kreuz und quer durch diesen Wald. Niemand weist mich zurecht, niemand behindert mich, die Muster gelingen. Langeweile stellt sich ein. Zaghaft erst, mit wachsender Begeisterung alsbald, greife ich, allen Warnungen zum Trotz, in die Fäden, verbinde sie nach meinen eigenen Vorstellungen zu wunderbaren neuen Gebilden, reiße ab, verknüpfe neu, steigere mich in einen wahren Schaffensrausch, als plötzlich jemand von hinten nach meinem Arm faßt. Zu Tode erschrocken hebe ich den Kopf, drehe mich um: du stehst hinter mir, deine Hand auf meinem Arm; vor mir auf dem Tisch das Buch über Kleinschmetterlinge. Du sagst: „Das Licht ist gut jetzt, du könntest sie fotografieren, die Seidenbäume.“