Falter

Ein Korb voll Bügelwäsche, das Metallgestell des Bügelbretts und die Beine seiner Mutter auf Augenhöhe, saß er da am Boden zwischen seinen Bauklötzen, errichtete Häuser und Türme hoch und immer höher, bis sie krachend zusammenstürzten, oder er beschäftigte sich mit seinen Büchern,  schlug sie auf, blätterte ein bisschen in ihnen herum und – was ihm am meisten Spaß machte – klappte sie dann geräuschvoll zu und stapelte sie nach Größe und Aussehen.  

Er hatte es gern, wenn seine Mutter bügelte. Meist summte oder sang sie leise vor sich hin, wenn sie ein Wäschestück nach dem anderen aus dem Korb holte, bügelte, faltete und anschließend auf dem Bett stapelte. Da waren die Handtücher, Geschirrtücher, Leintücher, Tischtücher, Hemden, Hosen, Unterwäsche und so manches andere. Die Stapel wuchsen zu Türmen an, aber bevor einer umzukippen drohte, wurde ein neuer angelegt. Ihm gefiel das, wie sich dieser Haufen Wäsche so nach und nach in eine übersichtliche Hochhauslandschaft verwandelte.

Als er etwas größer war, durfte er der Mutter helfen. Sie reichte ihm die gebügelte und gefaltete Wäsche, die er dann nach eigenem Gutdünken auf dem Grundriss des Doppelbettes beispielsweise in eine Skyline von Newyork verwandelte, wobei er es ganz genau nahm und der Mutter das eine oder andere Stück, das sich nicht so recht einfügen wollte, zurückbrachte. Doch bemerkte er, dass wiederholtes Reklamieren die harmonische Stimmung im Raum,  die ihm sehr am Herzen lag, bedrohte – der Gesang verstummte und die Mutter reagierte leicht ungeduldig ja gereizt -  sodass er beschloss, die Wäschestücke selbst aufs passende Format zu falten. Der  große Tisch wurde freigeräumt und unter Anleitung der Mutter übte er es immer und immer wieder, solange bis nicht nur die Tücher, sondern auch Hemden, Pullover und Unterwäsche sich unter seinen Händen in saubere Quadrate bzw. Rechtecke verwandelten. So einfach war das gar nicht. Manchmal, wenn es nicht recht gelingen wollte und er den Mut verlor, tröstete sie ihn. Sie sagte dann beispielsweise, es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, oder Übung macht den Meister, und wirklich, der wurde er dann auch.

Im späteren Leben waren es vorwiegend seine Kleidungsstücke, welche er, sobald er sie ablegte, sorgfältig faltete. Auch wenn tagsüber nicht alles so gelaufen war wie er es sich gewünscht hätte, stellte sich abends doch beim Anblick seiner schön gefalteten Kleidungsstücke eine gewisse Befriedigung ein, die ihn in einen ruhigen Schlaf gleiten ließ. (Die ihm einen ruhigen Schlaf bescherte)

Eine weitere Gelegenheit, seine Meisterschaft unter Beweiß zu stellen, bot sich vor Urlaubs- oder Geschäftsreisen an, wenn er nämlich daran ging, seinen Koffer zu packen: im ganzen Raum wurden die gefalteten Einzelteile ausgelegt, bevor sie lückenlos im Koffer untergebracht wurden, aber die allergrößte Herausforderung kam erst mit den reiferen Jahren auf ihn zu, als sein Arbeitsplatz wegrationalisiert wurde und die geräumige Wohnung einer

Einzimmerwohnung weichen musste. Viele Dinge hatte er schon weggegeben, die Kleidung und Wäsche auf ein Mindestmaß reduziert.

Zufriedenen Blicks stand er jetzt in der neuen Wohnung zwischen den aufgestapelten Bücherkartons vor dem Schrank,  in dem nach langem Tüfteln und Klein- und immer Kleinerfalten alle Textilien Platz gefunden hatten. Dieses Werk war schon einmal gelungen!

Allein von seinen Büchern, all den Schätzchen - Erstausgaben, Dünndruckbänden usw. die er im Laufe seines Lebens mit viel Liebe angesammelt hatte - konnte und wollte er sich nicht trennen. Ihrer naturgemäß festen geometrischen Form nach konnten Bücher allein durch ausgeklügeltes Aneinanderreihen bzw. Aufeinanderstapeln platzsparend untergebracht werden. Außer dem Schrank, einem Bett und einem Sessel wurde der Raum mit Bücherregalen  vollgestellt und es brauchte Tage bis die Bücherkisten geleert und gefaltet waren und all seine Bücher Platz gefunden hatten. Er hatte es geschafft! Zwar musste er jetzt mit eingezogenem Bauch und angelegten Armen durch die Wohnung gehen, aber wenn er ehrlich war, gefiel ihm dieses intime Leben mit seinen Büchern.

Mit der Zeit gewöhnte er es sich, wenn er in seinem Sessel saß, um Platz zu sparen an, die Arme vor der Brust zu verschränken und die Knie anzuwinkeln. Schlief er, so rollte er sich wie ein Embryo ein.

Selten verließ er die Wohnung und dann nur, um die nötigen Einkäufe zu erledigen oder das eine oder andere Antiquariat aufzusuchen.

Jeden Donnerstag besuchte ihn eine alte Freundin. Sie tranken dann ein Gläschen Wein miteinander und lasen sich gegenseitig aus einem der vielen Bücher vor.

Wieder war es so ein Donnerstag, als die Freundin klingelte, mehrmals klingelte, die Tür jedoch verschlossen blieb. Etwas beunruhigt – er hatte ja nicht angerufen und abgesagt – ging sie wieder nach Hause, um den Wohnungsschlüssel, den er ihr ja wie er sagte für alle Fälle zur Aufbewahrung gegeben hatte, zu holen. Als sich nach wiederholtem Klingeln immer noch nichts rührte, schloss sie auf.

Alles war wie immer – das Geschirr gespült, das Bett gemacht, keine Nachricht die er hinterlassen hatte. Ratlos ging sie, als ob sie ihn da suchte, durch das Labyrinth der Bücherregale, ließ den Blick rechts und links über die Buchrücken schweifen als ein gewisser Verdacht sie zu seinem Lieblingsbuch – sie wusste wo es stand – führte und wirklich, sie hatte es geahnt, da war er : Umschlossen von einem braun glänzenden Kittinpanzer  lag er auf dem vergoldeten Oberschnitt des Ganzlederbandes . Lange stand sie da und betrachtete ihn, zart strich ihr Zeigefinger über die einzelnen Segmente des festen Puppenpanzers hin und es war, als hätte sie es immer schon gewusst, vielleicht sogar gehofft, dass so etwas einmal geschehen würde. (dass es einmal so kommen würde)

Auf Zehenspitzen verließ sie die Wohnung und sie freute sich, freute sich unsäglich auf den nächsten Besuch, bei dem sie bestimmt ein wunderschöner bunter Falter erwarten würde.