Petite Fleur

Immer, wenn ich in der Küche zu tun habe, schalte ich das Radio ein; die Wellenlänge für den von mir bevorzugten Sender ist schon eingestellt. Eben läuft ein amerikanisches Instrumentalstück aus den Fünfzigerjahren, kenne es genau, wie hieß es denn gleich? und der Saxophonist, ein damals sehr bekannter, auch dessen Name fällt mir nicht mehr ein. Die kleine Single - Platte vor Augen, sehe ich uns, meine ältere Schwester, ihre Freundin und mich, wie wir da auf unseren Betten liegen, lesen, Äpfel essen, und eben dieses Stück immer und immer wieder hören.

Während sich die Eltern noch in der Stadtwohnung aufhielten, verbrachten wir damals Ferientage zu dritt im kleinen Bergdorf. Im großen, alten, leerstehenden Haus bewohnten wir nur einen Raum. Die meiste Zeit verbrachten wir auf unseren Betten und ernährten uns von Äpfeln, welche aus dem Garten geholt und vor unseren Betten zu kleinen Bergen aufgehäuft wurden. Neben den Äpfeln lagen die Zeitschriften und die Bücher;  ein Radio mit aufgesetztem Plattenspieler, das die Freundin zusammen mit einigen wenigen Schallplatten von zu Hause mitgebracht hatte, war in Reichweite, sodaß die Platten gewechselt werden konnten, ohne daß das Bett verlassen werden mußte. Da waren Schlager, Amerikanisches und ein Musical - oder hieß das damals noch Operette? -,  wenn ich mich recht entsinne war es von Paul Abraham und hieß „Die Rose von Hawaii“; wir hörten es immer wieder, kannten - wie übrigens von allen Stücken -  Melodie und Text in- und auswendig und sangen abwechselnd, manchmal auch zu dritt, lautstark mit. Daß Klassik fehlte - die wurde im Elternhaus der Freundin wohl nicht gehört - machte meiner Schwester und mir nichts aus - die gab es bei uns zu Hause zur Genüge, wir übten sie auch - mehr oder eher weniger gern auf unseren Instrumenten.

Was die Lektüre betraf, so lag der  Stapel mit den Illustrierten vor dem Bett der Freundin; meine Schwester las aus Zeitschriften und Büchern und vor meinem Bett lag eine Mischung aus sichtbar schon durch viele Hände gegangenen Donald Duck -Heftchen und altehrwürdigen, in Leder gebundenen Büchern, welche ich mir nach und nach aus dem Bücherschrank im Wohnzimmer holte. Damals war gerade Schiller an der Reihe, dessen Theaterstücke ich wie Kriminalromane verschlang. Nebenbei bemerkt, habe ich mir diesen Bücherschrank während vieler derartiger Aufenthalte querfeldein - Romane, Doktor - Bücher, Lexika, - nichts war vor mir sicher - restlos einverleibt. Im unteren Bereich des Schrankes, fällt mir gerade ein, lagen damals auch schon einige Taschenbücher neueren Datums; eines davon hieß „ Ariane, oder Liebe am Nachmittag“; die Geschichte spielte in Moskau und da war eine Szene, in der ein Mann eine Frau langsam entkleidet, bevor sie miteinander ins Bett gehen, was ich damals sehr eigenartig fand, und, da es zwischen uns so üblich war, daß wir einander besonders interessante Stellen vorlasen, gab ich diese Stelle, mit anschließendem Kommentar, daß die in Rußland komische Gebräuche hätten, zum Besten, worauf die beiden einander bedeutungsvoll ansahen und kicherten. Das aber nur so nebenbei; die Hauptrolle in diesem Ferienstück spielten zweifelsohne die Äpfel. Während wir so lesend, den Kopf auf Ellenbogen und Hand gestützt, seitlich auf unseren Betten lagen, - ab und zu mußte, wenn Hand oder Arm einzuschlafen drohte, die Seite gewechselt werden -, angelten wir uns Äpfel vom Boden, verzehrten sie und warfen die Putzen -so nennt man die abgegessenen Reste in Österreich - irgendwie in Richtung Fußende der Betten. Das dreifach krachende Abbeißen von den frischen, festen Äpfeln zusammen mit dem anschließenden Kauen und Schnurpsen bildete einen interessanten Hintergrund zur jeweils laufenden Schallplatte. Was die Apfelsorte betrifft, so richtete sie sich nach der Zeit unseres Lese - Marathons. Der Garten mit den alten Obstbäumen beherbergte vielerlei Apfelsorten; waren wir im Juli da, so aßen wir Klaräpfel - Weizäpfel werden sie in Österreich genannt, weil sie gleichzeitig mit dem Weizen reif werden und, reif dann, die Farbe des Weizens annehmen - übrigens holten wir uns von diesen immer die grünen, etwas unreifen vom Baum, die waren saurer und schmeckten uns besser. Auf die Klaräpfel folgten dann die Gravensteiner, gelbgrün mit roten Streifen; da mochten wir, die bereits im Gras lagen, am liebsten; Muschanzker, Kronprinz Rudolph, Lavanttaler Bananenapfel und Blutapfel gab es erst, wenn wir an Herbstwochenenden da waren. Aber egal, ob Juli, August, September - immer waren die Tage wunderbar; Wetter spielte keine Rolle für uns; wenn es regnete, war es drinnen besonders gemütlich, das Plätschern verleitete zu einem kleinen Schläfchen und der Kopf sank nieder auf das Buch. Außer den mit der Witterung verbundenen Geräuschen drang aber auch so manches andere von draußen an unsere Ohren, wie z.B. das Wiehern der stattlichen Noriker Ackergäule, das Stampfen ihrer Hufe und das Knarren der Räder, wenn die Fuhrwerke am Haus vorüber kamen; das Scheppern der Milchkannen auf dem Leiterwagen, wenn morgens die Milch zur Sammelstelle an der Straße im Tal gebracht wurde; ein ständiges Muhen und der dumpfe Schlag des Haselstockes auf Kuh - Hinterteile, wenn der Nachbarbub die Kühe zur Weide trieb, das Krähen, Gackern usw. - die üblichen Dorfgeräusche eben, die uns nicht störten, ja eher zu unserem Wohlbefinden beitrugen.

Anders da das Motorgeräusch, welches eines Tages dann - von der Straße im Tal bergauf sich nähernd, an Lautstärke zunehmend und vor unserem Haus dann plötzlich verstummend - unsere Vertreibung aus dem Paradies ankündigte : Gleich würde unsere Mutter ihr unerschöpfliches Register an Haus- und Gartenarbeiten ziehen. Gleichzeitig mit dem Motorgeräusch verstummten die Kaugeräusche in unserem Zimmer und der letzte Biß vom Apfel blieb uns im Hals stecken.

Gerade, als sich bei dieser Vorstellung nun -  ich hatte ja, während das Stück lief und meine Gedanken abschweiften, die begonnene Tätigkeit in der Küche fortgesetzt - dieses Gefühl der Beklemmung wieder einstellte, es mir , wie damals , die Kehle schnürte, verklangen die letzten Töne des Saxophons im Radio, und der Sprecher sagte :  Die Sendung mit  Musik aus den Fünfziger- Jahren klang aus mit „Petite Fleur“, gespielt von Sidney Bechet.  Nach einer kurzen Pause folgen die Nachrichten.